Elegie auf eine Nachtigall

[32] Sie ist dahin, die Maienlieder tönte,

Die Sängerin,

Die durch ihr Lied den ganzen Hain verschönte,

Sie ist dahin.

Sie, deren Lied mir in die Seele hallte,

Wenn ich am Bach,

Der durchs Gebüsch, im Abendgolde, wallte,

Auf Blumen lag.


Sie schmelzete die Wipfel in Entzücken.

Der Wiederklang

Entfuhr dem Schlaf, auf blauer Berge Rücken,

Wenn ihr Gesang

Im Wipfel floß. Die ländlichen Schallmeien

Erklangen drein,

Es tanzeten die Elfen ihre Reihen

Darnach im Hain.


Dann lauschten oft die jugendlichen Bräute,

Auf einer Bank

Von Rasen, an des trauten Lieblings Seite,

Dem Zauberklang.

Sie drückten sich, bey jeder deiner Fugen,

Die Hand einmahl,

Und hörten nicht, wenn deine Schwestern schlugen,

O Nachtigall.
[32]

Sie lauschten, bis der Hall der Abendglocke

Im Dorfe schwieg,

Und Hesperus, mit silberfarbner Locke,

Dem Meer entstieg.

Und giengen dann, im Wehn der Abendkühle,

Dem Dörfchen zu,

Mit einer Brust voll zärtlicher Gefühle,

Voll süßer Ruh.
[33]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 32-34.
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