Der blinde König

[116] Was steht der nord'schen Fechter Schar

Hoch auf des Meeres Bord?

Was will in seinem grauen Haar

Der blinde König dort?

Er ruft, in bittrem Harme

Auf seinen Stab gelehnt,

Daß überm Meeresarme

Das Eiland widertönt:


»Gib, Räuber, aus dem Felsverlies

Die Tochter mir zurück!

Ihr Harfenspiel, ihr Lied, so süß,

War meines Alters Glück.

Vom Tanz auf grünem Strande

Hast du sie weggeraubt;

Dir ist es ewig Schande,

Mir beugt's das graue Haupt.«


Da tritt aus seiner Kluft hervor

Der Räuber, groß und wild,

Er schwingt sein Hünenschwert empor

Und schlägt an seinen Schild:

»Du hast ja viele Wächter,

Warum denn litten's die?

Dir dient so mancher Fechter,

Und keiner kämpft um sie?«


Noch stehn die Fechter alle stumm,

Tritt keiner aus den Reihn,

Der blinde König kehrt sich um:

»Bin ich denn ganz allein?«

Da faßt des Vaters Rechte

Sein junger Sohn so warm:

»Vergönn mir's, daß ich fechte!

Wohl fühl ich Kraft im Arm.«


»O Sohn! der Feind ist riesenstark,

Ihm hielt noch keiner stand;

Und doch! in dir ist edles Mark,[116]

Ich fühl's am Druck der Hand.

Nimm hier die alte Klinge!

Sie ist der Skalden Preis.

Und fällst du, so verschlinge

Die Flut mich armen Greis!«


Und horch! es schäumet und es rauscht

Der Nachen übers Meer.

Der blinde König steht und lauscht,

Und alles schweigt umher;

Bis drüben sich erhoben

Der Schild' und Schwerter Schall

Und Kampfgeschrei und Toben

Und dumpfer Widerhall.


Da ruft der Greis so freudig bang:

»Sagt an, was ihr erschaut!

Mein Schwert, ich kenn's am guten Klang,

Es gab so scharfen Laut.« –

»Der Räuber ist gefallen,

Er hat den blut'gen Lohn.

Heil dir, du Held vor allen,

Du starker Königssohn!«


Und wieder wird es still umher,

Der König steht und lauscht:

»Was hör ich kommen übers Meer?

Es rudert und es rauscht.« –

»Sie kommen angefahren,

Dein Sohn mit Schwert und Schild,

In sonnehellen Haaren

Dein Töchterlein Gunild.«


»Willkommen!« ruft vom hohen Stein

Der blinde Greis hinab,

»Nun wird mein Alter wonnig sein,

Und ehrenvoll mein Grab.

Du legst mir, Sohn, zur Seite

Das Schwert von gutem Klang,

Gunilde, du Befreite,

Singst mir den Grabgesang.«
[117]

Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 116-118.
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