5. Nach einem alten Liede

[377] O, möchte mein Liebchen ein Rosenstock sein!

Dann nähm' ich von draußen den Liebling herein,

Und stellt' ihn vors Fenster, im Frühlingsweh'n,

Da könnt' ich ihn immer und immerdar seh'n.


Da sollt' ihn erquicken die herrliche Luft,

Und mich sollt' entzücken sein lieblicher Duft.

Ich küßte den Duft mir, bei heimlichem Schein

Des Mondes, ins innerste Leben hinein.


Ich wollte wohl morgens und abends ihn schau'n,

Ihn sanft mit der Kühle des Quelles betau'n:

Dann flüsterten rosige Lippen mir zu:

»Ich bin ja dein Liebchen; mein Liebchen bist du.«


Und nahten die lüsternen Bienelein sich:

Dann spräch' ich: – »Mein Liebchen trägt Honig für mich;

Zieht weiter, ihr Bienlein, zum blühenden Hain,

Und laßt mir mein Liebchen das meinige sein!«
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Es kämen auch freundliche Lüftchen daher,

Und neckten und scherzten und buhlten umher.

Die sprächen wohl huldige Wörtchen mir zu:

»Wir lieben, was hold ist; wir lieben, wie du.«


Es flatterte dann aus dem holden Gebüsch

Ein purpurnes Blättchen, so duftig und frisch,

Mir leis' auf die Wange; da wurzelt' es ein,

Da blüht' es wohl schöner, als draußen im Hain.


Und riefe die Mutter: »O, Töchterchen mein!

Dir glüht ja die Wange, wie Morgenrotschein!«

Dann spräch' ich: »Das haben die Rosen gethan;

Die Rosen am Fenster dort hauchten mich an.«

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 377-378.
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