Der Dichter und die Stimme

[258] Der Dichter.


Wie du mich anlachst, holdes Morgenroth,

Und Muth herab mir in die Seele glühst,

Ich fühl's, die Sorgen sind nun alle todt,

Den Sinn mit goldnen Ketten zu dir ziehst.


Die Stimme.


Noch schönres Roth, als diese Morgenstrahlen,

Wird einst dein Angesicht mit Purpur mahlen.


Der Dichter.


O nun erwacht schon wieder das Verlangen,

Mir gönnt's, mir gönnt's nicht eine Stunde Ruh,

Aus allen Wolken seh ich Bilder hangen

Und alle lächeln wehmuthsvoll mir zu.[259]

O wäre nur der trübe Tag zu Ende,

Daß ich im Abendscheine wandeln könnte,

Und unter dichten Eichen, dunkeln Buchen

Dem Unmuth fliehn, dich Einsamkeit zu suchen.


Die Stimme.


Was hoffst du auf den zarten Abendschimmer?

Der Unmuth ruht im Busen nimmer.


Der Dichter.


So will ich mich zu Harfentönen retten,

Im Waldhornsklang einheimisch seyn!

Mein Sinn soll sich in Flötenwollust betten,

Mich lullen Zaubermelodien ein.


Die Stimme.


Und dort werd' ich in jedem Tone klingen,

Dir süße Bilder vor die Seele bringen.


[260] Der Dichter.


So will ich schlafen, mich in Schlummer hüllen.

Und so des Herzens Sehnsucht stillen.


Die Stimme.


Kennst du die Träume nicht, die dann erwachen,

Dein Auge schnell mit Thränen füllen,

Verlangen in der Brust anfachen,

Und nimmer deine Sehnsucht stillen?

Nein, du bist mein, ich will dich nach mir ziehn

Und nirgends hin kannst du vor mir entfliehn


Der Dichter.


Wer bist du denn, gewalte Zauberin,

Daß du so quälst und marterst mich zum Tode hin?


Die Stimme.


Erinnerung heiß ich; denk der schönen Stunden!

Ach sind sie nicht zu schnell, zu schnell verschwunden?


[261] Der Dichter.


Kannst du nur quälen, giebst kein tröstend Wort?

Und ängstest mich nur immer fort und fort?

Wird nichts die bange Quaal denn wenden?

Wann wirst du die Verfolgung enden?


Die Stimme.


Wann du sie wiedersiehst,

Und schöner als vom Morgenroth

Du ihr entgegen glühst,

Dann endet deine Noth.

Dann freut dich Abendschein,

Dann ist Musik Gespielin dir,

Dann wirst du selber dir vertrauen,

Sehnst dich nach keinen Himmelsauen.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 1, Heidelberg 1967, S. 258-262.
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