[56] 1774.
In der Väter Halle ruhte
Ritter Rudolfs Heldenarm!
Rudolf, den die Schlacht erfreute,
Rudolf, welchen Frankreich scheute,
Und der Sarazenen Schwarm.
Er, der letzte seines Stammes,
Weinte seiner Söhne Fall;
Zwischen moosbewachs'nen Mauren
Tönte seiner Klage Trauren
In der Zellen Wiederhall.
Agnes mit den goldnen Locken
War des Greises Trost und Stab.
Sanft wie Tauben, weiß wie Schwäne,
Küßte sie des Vaters Thräne
Von den grauen Wimpern ab.
Ach! sie weinte selbst im stillen,
Wenn der Mond ins Fenster schien;
Albrecht mit der offnen Stirne
Brannte für die edle Dirne,
Und die Dirne liebte ihn.
Aber Horst, der hundert Krieger
Unterhielt im eignen Sold,
Rühmte seines Stammes Ahnen,
Prangte mit erfochtnen Fahnen,
Und der Vater war ihm hold
Einst beim freien Mahle küßte
Albrecht ihre weiche Hand;
Ihre sanften Augen strebten
Ihn zu strafen, ach! da bebten
Thränen auf das Busenband.
[57]
Horst entbrannte, blickte seitwärts
Auf sein schweres Mordgewehr;
Auf des Ritters Wange glühten
Zorn und Liebe, Funken sprühten
Aus den Augen wild umher.
Drohend warf er seinen Handschuh
In der Agnes keuschen Schoß:
Albrecht, nimm! Zu dieser Stunde
Harr' ich dein im Mühlengrunde!
Kaum gesagt, schon flog sein Roß.
Albrecht nahm das Fehdezeichen
Ruhig, und bestieg sein Roß;
Freute sich des Mädchens Zähre,
Die der Lieb' und ihm zur Ehre
Aus dem blauen Auge floß.
Rötlich schimmerte die Rüstung
In der Abendsonne Strahl;
Von den Hufen ihrer Pferde
Tönte weit umher die Erde,
Und die Hirsche flohn ins Thal.
Auf des Söllers Gitter lehnte
Die betäubte Agnes sich,
Sah die blanken Speere blinken,
Sah den edlen Albrecht sinken –
Sank wie Albrecht, und erblich.
Bang' von leiser Ahndung spornte
Horst sein schaumbedecktes Pferd;
Höret nun des Hauses Jammer,
Eilet in der Schönen Kammer,
Starrt und stürzt sich in sein Schwert.
[58]
Rudolf nahm die kalte Tochter
In den väterlichen Arm;
Hielt sie so zween lange Tage,
Thränenlos und ohne Klage,
Und verschied im stummen Harm.
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