Das Weltgericht

[323] Blinder Geist, entreiße heut

Deinem Blick die Decke,

Daß Gericht und Ewigkeit

Dich einmal erwecke.

Schau mit ernstem Angesicht

Am Entscheidungstage

Himmel, Hölle und Gericht,

Richter, Schwert und Wage.[323]


Sieh, – Verstockte wollen nur

Dieses Bild nicht sehen –

Auf den Trümmern der Natur

Deine Brüder stehen.

Welch ein unzählbares Heer

Wimmelt in der Ferne!

Viel, wie Tropfen in dem Meer,

Häufiger, als Sterne.


Wie er schon von ferne schreckt,

Der entflammte Richter!

Schrecken und Verzweiflung deckt

Tausend Angesichter.

Seht den großen Menschensohn

Seinem Donner winken,

Und die Sünder schlägt Er schon

Hin zu seiner Linken.


Sein erzürntes Auge blitzt,

Und er spricht im Grimme:

(Sieben Donner reden itzt

Ihre Todesstimme!)

Sünder, weicht! ich kenn' euch nicht!

Flieht vor diesem Stuhle,

Vor des Himmels Angesicht!

Heult im Schwefelpfuhle!


Wilde Stimmen heben sich

Aus verruchten Hälsen:

Berge, fallet über mich!

Decket mich, ihr Felsen!

Doch die Berge hören nicht:

Denn sie sind zerstöret,

Wenn der Sünder am Gericht

Ihren Trost begehret.


Nur die Tugend zittert nicht,

Wenn der Richter tödtet:

Denn sie schauet ein Gesicht,

Wo die Gnade redet.[324]

Muthig forscht des Frommen Blick

In des Richters Mienen;

Und er findet nur sein Glück,

Nicht Gericht in ihnen.


Sanft, wie Gottes Harfenton,

Wallt die Stimme nieder:

Kommt, ererbet euren Lohn,

Kommt, ihr meine Brüder.

Und sie steigen auf zum Licht,

Leicht, wie Adler steigen,

Fallen auf ihr Angesicht,

Danken Gott und schweigen.


Richter, ach! an jenem Tag

Wirst du mich verdammen?

Schlägt der Rache Donnerschlag

Mich in Höllenflammen?

Gingst du denn nicht ins Gericht?

Bist du nicht gestorben?

Hast du mir den Himmel nicht

Durch dein Blut erworben?


Heut, Erlöser! stehet mir

Noch der Himmel offen;

Heute kann ich noch von dir

Die Vergebung hoffen.

Ach! so heilige mein Herz,

Salbe diese Seele,

Daß Verzweiflung, Reue, Schmerz

Sie nicht ewig quäle.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 323-325.
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