42. Bild des Lebens

[304] Auf des Erdenlebens Steige

Fällt der Freude Silberlicht,

Flüchtig, wie durch rege Zweige

Bleiches Mondgeflimmer bricht;[304]

Wie sich Glanz und Nacht verdrängen,

Wo der Tag verlischt im Hain,

Wechseln auf des Schicksals Gängen

Dunkle Sorg' und Wonneschein.


Wenn der Strauch am Kirchhofswege

Blüten auf den Brautzug streut,

Neigt das grünende Gehege

Bald sich auf ein Grabgeleit.

Ulmen, unter deren Blätter

Oft die Nachtigall sich barg,

Leihen bald des Stammes Bretter

Zu der Dorfbewohner Sarg.


Jener West, der auf dem Weizen

Wonnetaumelnd Wogen schlägt,

Flüstert bang' an Denkmalskreuzen,

Wenn ihr dürrer Kranz sich regt;

Heute weht er Regenschauer,

Morgen Goldgewölke fort;

Hebet hier den Flor der Trauer

Und entblättert Rosen dort.


Wenn, des Reigens Platz zu hellen,

Sich das Abendgold ergießt,

Dringt es auch in Gitterzellen,

Wo sich scheuer Gram verschließt.

Wenn das Meer im Frührot schimmert,

Färbt sich auch die Klippenbank,

Wo, vom Nachtorkan zertrümmert,

Das bemannte Schiff versank.


Wandrer, der am Strom der Zeiten

Mit gesenktem Blicke ruht,

Sieh! auf seiner Flut entgleiten

Wolkenschatten, Rosenglut.

Die Natur in ihren Bildern,

Steten Laufs, doch wandelbar,

Heißt den Schmerz durch Hoffnung mildern,

Mahnt den Leichtsinn an Gefahr.
[305]

Aus dem Schutte feuchter Hallen

Keimt die Steinlevkoje bald;

Heiter, neben Urnen, wallen

Nymphen im Cypressenwald;

Auf der Wahlstatt singt die rasche,

Ahnungslose Schnitterin,

Hüpft auf der vergeßnen Asche

Manches Heldenjünglings hin.


Horch, was dir des Teiers Leier,

Gleims und Flaccus' Muse rät:

Weise, wer der Zukunft Schleier

Nur bekränzt und nie durchspäht!

Trag ein Herz, den Freuden offen,

Doch zum Leidenskampf bereit;

Lern im Mißgeschicke hoffen;

Denk des Sturms bei heitrer Zeit!


Zage nie: Den Kelch der Schmerzen

Würzt ein süßes Nachgefühl;

Hehrer Schauer hebt die Herzen

Im Orkan und Schlachtgewühl.

Hoher Mut und Kraft entquellen

Fest bestandener Gefahr;

Genien des Trosts gesellen

Sich zur Schwermut unsichtbar.


Späh nicht in des Stromes Bette,

Labe dich am Rasenbord;

Knüpfe neu der Freuden Kette,

Wenn ein Blumenglied verdorrt!

Donnerschläge, Waldgesänge

Wechseln neben deiner Bahn;

Wandle du, durch Blumengänge

Ernst, durch Klippen froh hinan!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 304-306.
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