An die Phantasie

[294] Freundin meiner Einsamkeiten,

Schöpferische Phantasie,

Tönte doch von meinen Saiten

Dir ein Lied voll Harmonie!

Wenn der müde Tag sich neiget,

Dämmerung die Welt umfließt,

Rings um mich die Schöpfung schweiget,

Und der Ruhe Glück genießt:

Dann erheiterst du des müden

Jünglings Seele, leitest ihn

In Gefilde voller Frieden,

Zu beglückten Schäfern hin.

Zauberische Bilder stehen

Jugendlich um ihn herum,

Und die trunknen Blicke sehen

Überall Elysium.

Götter! welche Lustgefilde

Welch ein reizend Blumenthal!

Alles lacht in Frühlingsmilde;

Jubel tönet überall.

Alle Thalgehölze blühen;

Mannigfacher Blumenduft

Und der Vögel Melodieen

Füllen ringsumher die Luft.[294]

Fette Lämmerherden wallen

In dem hohen Gras einher,

Und der Hirten Lieder schallen

Fröhlich hinter ihnen her.

Alles eilt in Schattengänge,

Wenn die Mittagsstrahlen glühn;

Herden lagern im Gedränge

Sich im Eichenschatten hin;

Und der müde Schäfer lehnet

Sich an seinen Schäferstab,

Seiner Flöte Schall ertönet

Lange nicht ins Thal hinab.

Aber endlich gießt er wieder

Leben in das Haberrohr,

Süße schäferliche Lieder

Schallen in die Luft empor.

Alles horchet auf die Töne.

Plötzlich unterbricht sein Lied

Eine wonnigliche Scene,

Seine braune Wange glüht.

Von der Seite hergesprungen

Kömmt der kleine Tityrus,

Hält des Vaters Arm umschlungen,

Schmeichelt ihn um einen Kuß.

Und die holde Gattin schreitet,

Einen Liebling auf dem Arm,

Durchs Gebüsch daher, begleitet

Von der Amoretten Schwarm.

Liebe lächelt ihm entgegen.

Er umarmt die Schäferin

Und sie sinkt mit stärkern Schlägen

An den treuen Busen hin.

Fröhlichkeit und Lust verbreitet

Sich um sie, das ganze Thal

Lächelt ihnen, sie bereitet

Ihm indes ein kleines Mahl.

Beide lagern sich im Schatten,

Dürsten nicht nach Überfluß.

Zwischen den beglückten Gatten[295]

Sitzt der kleine Tityrus,

Deutet auf die Flöte, winket

Seinem Vater, reicht sie hin,

Und der andre Liebling sinket

An die Brust der Schäferin.

Ungekünstelt spricht aus ihnen

Unschuld und Zufriedenheit,

Und aus ihren sanften Mienen

Lächelt die Vertraulichkeit –

Selig Paar! Ein Frühlingsmorgen

Ist das ganze Leben euch,

Vor der Neider Blick verborgen

Lebt ihr hier den Göttern gleich.

Aber holde Schäfersitten!

Ach, man suchet eine Spur

Nur vergebens in den Hütten,

Nur vergebens auf der Flur!

Nur des frommen Dichters Lieder,

Kinder seiner Phantasie,

Rufen eure Schatten wieder:

Aber ach! euch selber nie.

Doch gesegnet sei die milde

Phantasie; das stille Glück

Jener seligen Gefilde

Zaubert sie zu uns zurück.

Weich, o holde Freundin! weiche

Doch von meiner Seiten nie,

Jeden Augenblick beschleiche

Mich, geliebte Phantasie!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 294-296.
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