Auf ein Fass zu Öhringen

[99] Ich stand, der höchste, grünste Baum,

Vor Zeiten froh im Waldesraum.

Mir galt der Sonne erster Kuß,

Ich brachte, war sie schon geschieden,

Dem Wanderer zum Abendfrieden

Von ihr noch einen Purpurgruß.

Da sah mich ernst der Küfer ragen,

Der kam und hat mich schnell erschlagen.

Ade! Ade! du grüner Hain!

Du Sonnenstrahl und Mondenschein!

Du Vogelsang und Wetterklang,

Der freudig mir zur Wurzel drang!

Die Waldeslust ist nun herum,

Ich wandre nach Elysium.

Ihr Bruderbäume, folgt mir nach

In dieses himmlische Gemach;

O nehmt das Los der Auserkornen

Von all den tausend Waldgebornen,

Das schöne Los, das große Los:

Tief in des Grundes kühlem Schoß

Ein Faß zu sein, ein Faß zu sein,

Nicht so ein stillverlaßner Schrein;

Ein Faß, dem lieben Wein ergeben,

Der Erde heilges Herzblut hüllend,

Ein Trunk das ganze lange Leben,

Den Zecher durch und durch erfüllend!

Komm, komm, bewegter Erdengast,

Und halte hier vergnügte Rast.

Mach dir das Herz im Weine flott,

Schenk ein! trink aus! merkst du den Gott?

Braust dir der Geist durchs Innre hin,

Von dem ich selber trunken bin?

Er ist so feurig, süß und stark:[100]

O schlürf ihn ein ins tiefste Mark! –

Nun Wandrer, wandre selig heiter

Von Faß zu Faß forttrinkend weiter!

Schon tauchen dir im Rosenlichte

Herauf gar liebliche Gesichte:

Manch teures längst verlornes Gut,

Die Träum aus deinen Jugendjahren,

Sie kommen dir auf Weinesflut

Jetzt frisch und froh herangefahren.

Schenk ein! – du fühlst die alten Triebe

Zu kühner Tat hinaus! hinaus!

Du gibst den Kuß der ersten Liebe;

Schenk ein! du stehst im Vaterhaus.

Wohl dir! wohl dir! schon bist du trunken,

Und Gram und Sorgen all versunken;

Wir schützen dich, hier packt dich nicht

Ihr freches, quälendes Gezücht,

Wir stehen Faß an Faß zusammen,

Wir lassen unsre Waffen flammen;

Und heimlich hinter unsern Bäuchen

Muß dir die Zeit vorüberschleichen.

Schenk ein, schenk ein, nur immer zu!

Und hat der Gott dich ganz durchflossen,

Laß tragen dich von flinken Rossen

Nach dem Hesperien Friedrichsruh.

Dort schwanke unter grünen Bäumen

Mit deiner Last von Himmelsträumen,

Und lausche dort den Harmonien,

Die durch den Zaubergarten fliehen.

Ein voller stürmischer Akkord

Nimmt dich an seinen Geisterbord,

Irrt weit mit dir von hinnen, weit,

Hinaus ins Meer der Trunkenheit!

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 99-101.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Faust: Ein Gedicht
Gedichte
Die schönsten Gedichte
Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Geistliche Oden und Lieder

Geistliche Oden und Lieder

Diese »Oden für das Herz« mögen erbaulich auf den Leser wirken und den »Geschmack an der Religion mehren« und die »Herzen in fromme Empfindung« versetzen, wünscht sich der Autor. Gellerts lyrisches Hauptwerk war 1757 ein beachtlicher Publikumserfolg.

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon