2. Frühlingslied

[319] Von wannen kömmt der süße Schall? –

Bist du es, Melodieenreicher,

Du Bardenvogel Nachtigall,

Der mich aus meinem Schlummer ruft? –

Wenn du es bist; dann ist der Schnee zerronnen,

Dann herrscht der Lenz mit seinen Wonnen

Im Felde, Wald und Luft.


Heil mir! Er ist's! Die Seele

Des Jahrs ward ihrer Todesbanden los.

Heraus, heraus aus deiner Höle,

O Barde, wo der Winter dich verschloß!

Reib dir das Auge hell,

Beflügle deinen Schritt.

Heraus, und nimm die Harfe mit!


In meines Felsens Höle,

Des Lebens satt, und kaum des Lebens werth,

Lag ich, mit trägentschlafner Seele,

Auf weichem Moos in meiner Höle;

Mich fütterte der Knecht, und wärmte meinen Heerd.
[319]

Außen war der Schmuck der Felder

Vom Wintersturm hinweg geraubt;

Jeder Ast der Wälder

Mit Zapfeneis und Flockenschnee belaubt.

Nur selten blinkte durch die Nebeldecken

Der späten Sonne Blick:

Bald zog sie, wie voll Schrecken,

Sich hinter ihr Gebürge zurück.

Da scholl durch die einöde Haide

Hungriger Wölfe Gebrüll;

Da schwieg das frühe Lied der Freude,

Und alle Harfen waren still.

Einsamkeit und Trauer

Machten um mich her ein Grab,

Und mir war, als käm' der Schauer

Des Todes über mich herab.


Aber die Nachtigall ruft!

Es keimt das Feld, es glänzt die Luft;

Milde Sonnenstrahlen schweben,

Blumen knospen hervor;

Und mit freudigem Leben

Ringt sich mein Geist empor.


O laßt mich, laßt mich ganz erquicken

Der balsamirten Lüfte Wehn!

Laßt mich das erste Veilchen pflücken,

Das mein' entnebelten Augen sehn!

O daß ich, wie mit Schwalbenflügeln,

Im Nu, vom Thale zu den Hügeln,

Von dar mich hoch gen Himmel dürfte drehn,

Um überall die Hölen heiter,

Die keimenden Wälder, die Berge voll Kräuter,

Die silberrieselnden Bäche zu sehn!


Hervor, hervor wie diese Sprossen,

Du jugendliche Schar!

Gieb, Jüngling, deinen gier'gen Rossen

Die ersten zarten Blumensprossen,

Und schärfe deinen Spieß, und knüpfe dir das Haar.[320]

Dann merke, wo die Ehre winkt,

Und horche, wo der Bogen klingt,

Und sammle dir in deinem Lenze

Des Ruhmes ewig frische Kränze.


Oder hörest du die schönen

Bardenlieder lieber tönen?

So mußt du dich

Der Weisheit heiligen,

Mit Eichenlaub dich krönen;

Dann tritt zum Barden hin und sprich:


O weihe du mir eine Harfe

Und unterweise mich darauf,

Daß ich, was reizend ist, besinge,

Vom Lenze bis zur Tugend hinauf.

Daß ich nicht wie das dumme Thier

Auf diesen bunten Auen spiele;

Nicht dieser Eiche Pracht, nicht dieser Blume Zier,

Und keinen Dank, noch kein Entzücken fühle.

Drum gönne mir der Weisheit Lehre

Weil ich noch lernen kann;

Damit die Enkelwelt einst meine Lieder ehre,

Noch mehr, den guten greisen Mann.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 48, Stuttgart [o.J.], S. 319-321.
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