An den einjährigen Wilhelm von K.

[70] Du kennst noch nicht den Regenbogen

Und nicht die Sonnenstrahlen, Kind!

Dein erstes Jahr ist hingeflogen,

Wo Deiner Vater Jahre sind;


Und niemals ward der schöne Morgen

Von Dir bemerkt, von Dir gedacht,

Wenn ihn Dein Herz gleich ohne Sorgen

Aus offnen Augen angelacht.


Die große Kraft zu unterscheiden,

Liegt in der Seele noch verhüllt;

Und dennoch wird sie schon mit Freuden

Und auch mit Traurigkeit erfüllt.


Ein stiller Gram schwächt Deine Blicke,

Und zieht von Deines Mundes Rand

Dein süßes Lächeln oft zurücke

Ins Herz, das den Verlust empfand.
[70]

Dem Jünglinge, dem unwillkommen

Der Tod sein liebes Mädchen nahm;

Dem Reichen ward nicht mehr genommen,

Wenn in sein Haus ein Räuber kam,


Als Dir in Deinem ersten Glücke

In jener so geliebten Brust;

Seitdem erstarb in Deinem Blicke

Das Feuer und des Lachens Lust.


O holder angenehmer Knabe!

Noch mancher Kummer wartet Dein

Bis Du gestützt an einem Stabe

Dich Deiner Nachwelt wirst erfreun.


Du lernest Welt und Menschen kennen,

Und seufzend wirst Du laut und schwer

Oft Welt und Menschen schrecklich nennen,

Wenn keine Tugend in ihr wär;


Und über ihr ein Gott nicht wohnte,

Der seine Frommen kennt und liebt,

Und stille Tugenden belohnte,

Und nach dem Kummer Freuden giebt.
[71]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 70-72.
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