Brief

[151] An Richard Dehmel


Dichter, nicht vergessen hab ich deiner,

Während du die schönen Wege gingest,

Goldene Lebensfrüchte

Aus dunklem Laub zu pflücken

Und schauernde Gedanken

Aus Nymphenhänden.

Oft gedacht ich deiner,

Aber ein Mal vor allen:

Da war mystischer Vollmond

Mir über der Stirn,

Ein leuchtendes Ding, ein Land

Hoch im leeren Raum.

Ich schaut ihn an

Und wuchs empor

Und kam ihm näher

Und meint', er käm zu mir,

– Wie einer über des gleitenden Schiffes Bord gebeugt

Auf leerem blauem schweigendem Meer

Einer Insel entgegenstarrt

Und meint, sie schwebt ihm entgegen,

Die leuchtende, mit Blumenfüßen –:

So wuchs ich auf,

Dem Mond entgegen riesengroß,

Vergessend meiner Füße

Und der dunklen Erde unter mir.


Ein solcher muß ich da geworden sein

Wie der Genius der Zeit,

Der Gebieter der Dinge,

Steinäugig, gewappnet,

Kolossalisch hinschreitend

Über die Reiche ...

Wenn seine Sohlen im Flußbett wandeln,[152]

Reichen der Pinien von Kreideklippen

Des steilen Ufers emporgereckte

Schwarze Wipfel nicht auf,

Lange nicht,

An die mattsilberne Fratze der Gorgo,

Die ihm die Stirne des Knies umbindet,

Nur unten die Schienen der schreitenden Beine

Spiegeln beim Blitzschein

Der schwarzen Pinien sturmschaukelnde Wipfel.

So schreit ich manchmal,

Kanäle, Gärten, Einöde, Hügel

Zwischen den Schritten,

Hin über die Welt,

Darin nichts Fremdes ist

In solchen Stunden ...:

All Gegenwart,

All Sinn, all wie im Traum.


Da saßest auch du

Irgendwo

In meiner Welt

Über Bogen und korinthischem Gebälk

Einer römischen Ruine

In einem Vogelnest,

Einem Nest aus wilden Rosen und Schlingkraut,

Um dich die leere Luft,

Allein, ein Hirtengott, ein Pan,

Und leuchtend unter dir die Lebensflur.


Und jetzt bist du daheim, nicht mehr ein Gott,

»Im Schattenland, ein Schattenmann,

Der grauen Heimat öde Schollen tretend –«


Was ist das für ein Wort?

Wer redet solch ein Wort

Und ist ein Dichter?

Das Wort der Klage ist ein leeres Wort![153]

Hast du nicht deiner Sinne dumpfe Flur,

Darüber hin des Lebens Göttin dich,

Die wilde, jagt

Mit großen schwarzen Hunden,

Leben, Traum und Tod,

Drei großen schwarzen Hunden?

Hast du nicht Gabe,

Die Wesen zu schauen,

Nicht kalt von außen,

Nein, aus dem Innern

Der Wesen zu schauen

Durch dumpfe Larven

Ins Weltgetriebe,

So wie der trunkene Faun aus der Maske,

Der grellbemalten Kürbismaske,

Unheimlich schaut durch Augenlöcher.

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 1: Gedichte, Dramen, Frankfurt a.M. 1979, S. 151-154.
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