Die Bestimmung des Menschen

[133] Als die Königin der Dinge,

Reich an unerschöpftem Reiz,

Wesen schuf, war nichts ihr zu geringe;

Sie begabete mit mildem Geiz;

Denn das Füllhorn aller Trefflichkeiten

War in ihrer Mutterhand,

Und sie paarte, was an Lieblichkeiten,

Wechselnd auch, zusammen je bestand.


Einen Schmuck von tausend Farben

Webte sie um Florens Brust;

Neu verjünget, wenn die Schwestern starben,

Treten Schwestern auf mit Siegeslust.

In ein Chor von tausend süßen Liedern

Theilte sich ihr mächt'ger Klang,

Der auf bunten schwebenden Gefiedern

Disharmonisch-schön zum Himmel drang.
[133]

Stärke, Klugheit, sanfte Triebe,

Schönheit in jedweder Art,

Und in tausend der Gestalten Liebe

Ward umhergegossen ungespart.

Endlich trat sie in sich selbst und senkte

Tief sich in ihr Mutterherz:

»Meinem Liebling, wie wenn ich ihm schenkte

Aller meiner Kinder Lust und Schmerz?«


Und sie sann. Auf einem Wege

Ward aus Allem Sympathie.

»Ferne,« sprach sie, »sei von ihm die Träge;

Seine Lust sei ewig-süße Müh!

Angeboren werd' ihm nichts; geboren

Werd' in ihm ein ew'ger Trieb;

Und auch jedes Glück, durch Schuld verloren,

Werd' ihm tausendfach durch Reue lieb!


Nur in Andern sei sein Leben,

Wirksamkeit sein schönster Lohn!

Enkel, die ihm Dank und Ehre geben,

Lohnen ihn für seiner Brüder Hohn.

So vereint durch alle Folgezeiten

Strebe seine süße Müh;

Neu gestärkt durch Widerwärtigkeiten,

Steige mehr und mehr umfassend sie!


Auch im Kleinsten werd' ums Ganze

Ewig dies Geschlecht verdient;

Nur am Ziel, im schönsten Abendglanze,

Hängt der Kranz, der für den Menschen grünt.

Für die Leidenden, die ihn umringen,

Weih' ich ihn der Menschlichkeit,

Und sein Herz, wenn Seufzer auf ihn dringen,

Zum Altare der Barmherzigkeit.«


Mutterkönigin! das schwächste Wesen,

Das man einzeln nur beweint,

Hast Du Dir im Ganzen auserlesen

Und gesammt durch Lieb' und Noth vereint.

Deinen Sinn fürs Größere und Größte

Und Dein Mutterherz, Natur,

Gabst Du uns. Da Bessere und Beste

Weckt uns stets und lebt im Ganzen nur.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 133-134.
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