Die letzte Freundesliebe

[466] Als Jesus nun zum letzten Kampf

Ging in Gethsemane,

Auf seiner Stirne brach schon Angst,

Im Herzen Ach und Weh!

Zum Vater wallt' er sehnend hin,

Zu beten und zu flehn;

»Ihr Brüder,« sprach er, »harret hie,

Dort will ich beten gehn.«
[466]

Drei liebe Freunde nahm er hin.

»Ihr,« sprach er, »wachet hier!

Mein Herz ist traurig in den Tod;

Ihr Brüder, wacht mit mir!«

Ging hin ein Wenig fürder, fiel

Dahin aufs Angesicht

Und betete und zitterte;

Die Brüder wachten nicht.


»Mein Vater,« sprach er, »kann es sein,

So geh' der Kelch von mir!

Nicht ich, wie Du willst! wie Du willst,

Mein Wille folget Dir!«

Er kam; sie schliefen. »Traget Ihr

Mein Kreuz mir also nach?

Ach, wacht und betet! Willig ist

Der Geist, das Fleisch ist schwach!«


Ging hin zum andern Male, fiel

Dahin aufs Angesicht

Und zagte tiefer, zitterte;

Die Brüder wachten nicht.

»Kann nicht, o Vater, kann er nicht,

Der Kelch, vorübergehn?

Ich soll ihn trinken; nun wolan,

Dein Wille soll geschehn!«


Er kam; sie schliefen; riß sich hin

Und fleht' zum dritten Mal;

Der Angstschweiß troff von seiner Stirn

In Tropfen ohne Zahl.

Ein Engel kam, zu stärken ihn;

Er betet' ängster, rang

Schon mit dem Tode, daß sein Blut

Durch alle Adern drang.


Stand auf und suchte seine Drei,

Fand alle schlummern sie.

»Ach, wollt Ihr schlafen nun und ruhn?

Die Stund, die Stund ist hie,

Da 's Menschen Sohn in Sünderhand

Zum Tode von Euch geht;

Wacht auf! steht auf! er ist schon da,

Ist da, der mich verräth.«
[467]

Sie nahmen ihn; der Jünger Hauf'

Zerstob von ihm im Nu.

Wo warst Du nun, Du liebes Drei?

In Ferne schwindest Du!

Der nimmer ihn verlassen wollt'

Vor aller Jünger Zahl,

Der heute mit ihm sterben wollt',

Verleugnet' ihn dreimal.


O Jüngertreu! o Menschenwort!

O Freundsvermessenheit!

Wenn Stunde der Versuchung kommt,

Wo sind wir weit und breit!

Wenn Stunde der Versuchung kommt,

Ich wachen soll für Dich!

Der Geist, er will, das Fleisch ist schwach;

Freund, bete Du für mich!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 466-468.
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