Aus dem Gefängniß

[316] Wenn Liebe mir nur, zart geschwingt,

Hier durch das Gitter schleicht

Und mir mein süßes Mädchen bringt

Und meinen Schooß erreicht,

Und dann ihr Arm mich sanft umschlingt,

Ihr Blick anfesselt mich –

Kein Vogel, der in Lüften singt,

Ist freier dann als ich!


Wenn ringsum volle Becher gehn

Mit lautem Lustgesang,

Und unsre Rosen frisch uns stehn,

Und süß ist unser Trank,

Und tauchen Unmuth, Gram und Weh

Hinunter brüderlich –

Kein Fisch in weiter, weiter See

Ist freier dann als ich!


Wenn eingesperrt ich amselgleich

Nur lauter schlagen soll

Von meines Königs Gnadenreich

Und seines Reiches Wohl,

Wie gut er ist und groß soll sein,

Und singe königlich –[316]

Kein Sturmwind in den Wüstenein

Ist freier dann als ich!


Stein, Wall und Mauern kerkern nicht,

Kein Gitter kerkert ein;

Ein Geist, zufrieden, ruhig, spricht:

»Das soll mein Palast sein!«

Fühlt Herz sich nur und Muth sich gleich

Und frei und fröhlich sich –

Nur Engel dort im Himmelreich

Sind dann so frei als ich!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 316-317.
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