Wohin Du horchst ...

[204] Wohin Du horchst, vernimmst Du den Hülferuf

Der Noth! Wohin Du blickest, erschrecken Dich

Gerungne Hände, bleiche Lippen,

Welche des Todes Beschwörung murmeln!
[204]

Wohin Du helfend schreitest, versinkt Dein Fuß

Im Koth der Lügen. – Selbstischer Dummheit voll

Schreit dort ein Protz nach »Ordnung«, ihm ja

Füllte der »gütige Gott« den Fleischtopf.


»Reformation«, so heulen die Pfaffen rings.

»Es muß die Kirche wieder im Geisterreich

Als Herrin thronen: ihre Lehren

Scheuchen das Sorgen um weltlich Wohlsein!«


Des Staates Herren hoffen des Staates Heil

Vom sichren Maulkorb, welcher das Beißen wehrt,

Sogar das unbequeme Bellen

Wissen sie knebelgewandt zu dämpfen ...


In diesem dunkelflutenden Wogenschwall

Wo ist der Boden, welcher den Anker hält?

Wann naht der Gott im Sturm fahrend,

Der die verpesteten Lüfte reinigt?


Wo blitzt ein Lichtstrahl kommenden Morgenroths

An diesem nachtbelasteten Horizont?

Wo sieht der Jugend Thatensehnsucht

Flattern die Wimpel des fernen Zieles?

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 204-205.
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