|
[638] 100
Und seien's tausend Worte auch,
Geordnet ohne Sinn und Zweck:
Ein Sinnspruch ist vortrefflicher,
Der Frieden dem Vernehmer bringt.
101
Und seien's tausend Strophen auch,
Geordnet ohne Sinn und Zweck:
Ein Strophensatz ist trefflicher,
Der Frieden dem Vernehmer bringt.
Wer auch ein Hundert Strophen spricht,
Geordnet ohne Sinn und Zweck:
Ein Wahrheitspruch ist trefflicher,
Der Frieden dem Vernehmer bringt.
103
Nicht wer zehnhunderttausend Mann
Am Schlachtfeld überwältigt hat:
Wer einzig nur sich selbst besiegt,
Der, wahrlich, ist der stärkste Held.
104
Vorzüglicher als Völkersieg
Ist eignen Herzens Bändigung;
Dem selbstbezwungen Lebenden,
Beständig standhaft Wandelnden,
[639] 105
Dem kann kein Gott, kein Genius,
Selbst Satan mit dem Brahmā nicht
Den Sieg entreißen irgendwie,
Dem also stets Verweilenden.
106
Magst Tausenden allmonatlich
Durch hundert Jahre Spendung tun:
Verehrst nur einen Augenblick
Du einen Selbstgewaltigen,
Ist diese Ehrung trefflicher
Als spenden hundert Jahre lang.
107
Und dienst du volle hundert Jahr'
Dem Feuerkult im Waldeshain,
Verehrst nur einen Augenblick
Du einen Selbstgewaltigen,
Ist diese Ehrung trefflicher
Als opfern hundert Jahre lang.
108
Was immer auch ein frommer Lohnbegehrer
Im Lauf des Jahres opfern mag und beten:
Dies alles taugt auch keinen einz'gen Heller,
Verneigung vor den Tüchtigen ist besser.
109
Dem liebevoll Begrüßenden,
Gereifte stets Verehrenden
Erreift gelinde viererlei:
Der Leib, das Leben, Wohlsein, Kraft.
110
Und lebt man hundert Jahre auch,
Untüchtig, ohne ernsten Sinn:
Weit besser ist ein einz'ger Tag
Des selbstvertieften Tüchtigen.
[640] 111
Und lebt man hundert Jahre auch,
Unweise, ohne ernsten Sinn:
Weit besser ist ein einz'ger Tag
Des selbstvertieften Wissenden.
112
Und lebt man hundert Jahre auch,
Unstrebsam, ohne Kampfesmut:
Weit besser ist ein einz'ger Tag
Des starken Mutergriffenen.
113
Und lebt man hundert Jahre auch,
Unkundig dieser Wandelwelt:
Weit besser ist ein einz'ger Tag
Des Wandelwelt-Erkennenden.
114
Und lebt man hundert Jahre auch,
Unkundig des Erlösungswegs:
Weit besser ist ein einz'ger Tag
Des Toderlösung-Kennenden.
115
Und lebt man hundert Jahre auch,
Unkundig jenes höchsten Ziels:
Weit besser ist ein einz'ger Tag
Des höchstes Ziel Erschauenden.
Buchempfehlung
»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro